Kreisläufe des Sich-Betäubens
In den letzten Jahren hat die Opioid-Krise in den USA schon vielfach zu Schlagzeilen geführt. Einerseits ist sie ein gesundheitliches Phänomen, weil eben immer noch in mehr Fällen als wahrscheinlich nötig diese süchtig machenden Schmerzmittel von Ärzten verschrieben werden. Sie deutet aber auch auf ein kulturelles Problem. "Die Orte, die von der Überdosiskrise am stärksten betroffen sind, sind Orte, an denen Menschen hoffnungslos sind und keine Arbeit haben. Orte, an denen die Infrastruktur zusammengebrochen ist, vollkommen vernachlässigte Gegenden", sagt etwa der Bioethiker Travis Rieder, der nach einem schweren Unfall selbst in die Abhängigkeit geriet. Die einlullende Wirkung der Medikamente wirkt eben nicht nur bei Schmerzen mit körperlichen Auslösern, sondern lässt Menschen auch die Hoffnungslosigkeit der eigenen Situation weniger spüren. "Wenn man Opioide genommen hat, vergisst man die Welt um sich herum komplett, Entspannung, Ruhe und Wärme überschwemmen einen. Die Medikamente nehmen einem die Sorgen und für einen kurzen Moment ist die Welt gut", beschreibt Rieder seine eigenen Schmerzmittelerfahrungen. Er selbst schaffte mit einer Mischung aus Willenskraft, dem Mut des Verzweifelten und Unterstützung von Ärzten und Familie den Entzug - und musste auf seinem langen Leidensweg auch erfahren, wie überfordert viele Mediziner damit sind, Menschen zu begleiten, die keine Schmerzmittel mehr nehmen möchten. Für Menschen, die unter Bedingungen leben, die sie am liebsten vergessen möchten, ist ein Entzug jedoch wenig verlockend. Vielleicht erklärt das mit die hohen Todesraten in den USA durch Schmerzmittelmissbrauch. Und vielleicht sollten wir das Problem nicht nur als medizinisches betrachten, sondern auch nach Wegen suchen, für bessere Lebensumstände zu sorgen.
"Es fühlte sich so an, als würde mein Gehirn schmelzen", zeit.de 22.7.20