Politische Entfremdung verfestigt sich
Die Corona-Proteste sind, das legt eine neue interdisziplinäre, transnationale Studie nahe, anscheinend die Spitze eines Eisberges. Das Forschungsprojekt "Cultures of Rejection" untersuchte auf europäischer Ebene, wie sich in den vergangenen Jahren zunehmend eine Ablehnungskultur etabliert hat. Ihrer Wahrnehmung nach hat die heute so stark in Erscheinung tretende Protestbewegung tiefere Wurzeln. Schon 2015 habe sich dieser Perspektivwechsel angebahnt. Die jetzigen Proteste fußten auch in einer schon vor der Pandemie "existierenden Entfremdung von politischer Beteiligung und demokratischer Repräsentation", heißt es in einer Pressemitteilung der Humboldt-Universität, die an dem Forschungsprojekt beteiligt ist. Zwar unterscheiden sich die Protestbewegungen in verschiedenen Ländern durch regionale Besonderheiten, doch weisen sie auch Gemeinsamkeiten auf. "Zu diesen gehören ein vorrangig ein übersteigerter Individualismus, stark personalisierte Politikformen, eine Mischung aus Verschwörungsdenken und Spiritualismus und eine fundamentale Skepsis hinsichtlich institutionalisierter Autoritären", so die Wissenschaftler. Sie gehen davon aus, dass diese Bewegungen bleibende Spuren hinterlassen werden. "Einerseits haben sie subjektive Erlebnisse, soziale Verbindungen und organisatorische Infrastrukturen ausgebildet, die auch nach der Pandemie weiterbestehen können. Andererseits zeigt sich in ihnen eine Erneuerung der Proteste "gegen Flucht und Migration", deren ideologische Zusammensetzung auch in zukünftigen politischen Krisen nach der Pandemie verfangen kann", so die Einschätzung. Selbst wenn die Pandemie einmal vorbei ist, gibt es also langfristigen Aufarbeitungsbedarf.
Empirische Tiefenbohrungen in die Welt der Corona-Proteste, idw 23.2.2022