Wenn die Gegenwart zum diffusen Brei wird
Wir alle machen wohl in den letzten Wochen die Erfahrung, dass unser Leben, obwohl es zumindest in den eigenen vier Wänden abläuft wie immer, irgendwie diffuser wird. "Geräusche klingen aber nur gedämpft ins eigene Leben herüber. Und der Blick auf das, was draußen geschieht, ist verschwommen", beschreibt es der Psychiater Jan Kalbitzer in einem Gastbeitrag für die Zeit. Er spricht von einer "Zwischenzeit", die wir gerade erleben. Die Zukunft, die uns sonst ein Antreiber ist und damit Zielkoordinaten an die Hand gibt, rutscht uns irgendwie zwischen den Fingern durch, weil planen gerade bei vielem wenig Sinn macht. Und so sitzen wir im Heute fest. "Vielleicht fühlt sich diese Gegenwart auch deshalb so unangenehm zäh und hektisch zugleich an, weil sie geprägt ist von einem Widerspruch zwischen dem Wissen, dass die Komplexität der Welt immer weiter zunimmt – der alltägliche Bewegungsradius jedoch noch immer eingeschränkt ist", vermutet Kalbitzer. Sein Rat an alle, die gerade hadern - sich auf all die zwiespältigen Gefühle einlassen und sie durchleben: "Vielleicht sollte es deshalb eben nicht darum gehen, den gegenwärtigen Zustand gleich wieder einzuordnen und zu reflektieren. Sondern darum, die Sorge und die Verunsicherung zuzulassen, die diese Zwischenzeit mit sich bringt. Weil Gegenwart nur dann, wenn man nicht gezwungenermaßen in ihr stecken bleibt, sondern sich ihr bewusst zuwendet, zu einer lehrreichen Erfahrung werden kann."
Irgendwie anstrengend, das Leben im Hier und Jetzt, zeit.de 22.6.20