Im Interview mit der Zeit geht der Soziologe Ulrich Bröckling der Frage nach, wie kreativ und frei das Leben der Arbeitenden in der Kreativwirtschaft ist - und entzaubert dabei so manchen Mythos: "Das Lob der Kreativwirtschaft klingt in meinen Ohren wie eine Identifikation mit dem Aggressor. Man feiert die Zumutungen, weil man sie nicht ändern kann. Ökonomisch erfolgreich sind nur die wenigsten. Überhaupt ist es ja nur eine sehr kleine Schicht, die in der Kreativwirtschaft arbeitet, meist junge Leute zwischen Mitte Zwanzig und Ende Dreißig, in der Regel ohne Familie. Sie sind in der Tat mobil, dynamisch und bereit, mit wenig auszukommen. Die eine oder der andere wird wohl auch noch von den Eltern alimentiert. Die Arbeitsbedingungen in der Kreativwirtschaft sind jedenfalls nichts für Leute, die kleine Kinder haben oder Angehörige pflegen müssen." Bröckling richtet das Augenmerk auf Selbstausbeutung, die Entgrenzung von Arbeit und Freizeit und nimmt an, dass viele Kreativarbeiter romantisch dem Traum vom ganzheitlichen Leben nachhängen, während sie eigentlich der Selbstausbeutung frönen. Gleichzeitig beschreibt er auch neue, verführerische Bezüge zwischen Kunst und Kommerz: "Künstler produzieren Differenzen, sie brechen Regeln und überschreiten Grenzen. Genau das fordert auch der Markt. Anders gesagt: Zwischen der modernen Kunst und der unternehmerischen Tätigkeit besteht eine strukturelle Verwandtschaft. Moderne Kunst bricht den alten Formenkanon auf und produziert Neues. Und der Unternehmer ist gerade kein bloßer Verwalter, sondern ein »schöpferischer Zerstörer«, wie das der Ökonom Joseph Schumpeter genannt hat. Er setzt Innovationen durch, sucht nach Alleinstellungsmerkmalen. Mit kleinen semantischen Umstellungen können Sie das alles auf den künstlerischen Bereich übertragen, es gibt Transfers in beide Richtungen. Der Unternehmer ist ein Künstler, und der Künstler ein Unternehmer." Bei allen Chancen zur Gestaltung bleibt das Fazit des Soziologen letztlich jedoch nüchtern: "Das unternehmerische Selbst ist auch ein erschöpftes Selbst."
"Kreativ? Das Wort ist vergiftet", Die Zeit 8.11.10
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