Gerechtigkeit ist Mangelware im Business
Studien zeigen, dass die Babyboomer-Generation immer öfter darüber nachdenkt, wie sie früher aus dem Erwerbsleben aussteigen kann. Nicht einmal jeder Zehnte dieser Altersgruppe beabsichtigt, bis zum offiziellen Renteneintrittsalter zu arbeiten. In den Augen des Soziologen Wolfgang Menz liegt das vor allem daran, dass sich in den letzten Jahren in vielen Unternehmen eine Kultur des sich permanent Behaupten-Müssens eingespielt hat. "Früher konnten Beschäftigte, die durch gute Leistungen aufgestiegen sind, ihren Status einfacher erhalten. Einmal erreicht, war die Position gesichert. Nun gibt es in Unternehmen schon seit längerem die Entwicklung, dass Leistung ständig getestet wird – Beschäftigte müssen sich immer wieder bewähren und zeigen, dass sie sich ihre Stellung zurecht erarbeitet haben. Sie haben den Eindruck, immer mehr Leistung bringen zu müssen, um ihre Stellung im Unternehmen und der Gesellschaft nicht zu gefährden. Eine Gegenreaktion ist aus diesem System auszusteigen, um sich dem Druck nicht weiter auszusetzen", sagt er in einem Interview mit der Wirtschaftswoche. Das Gefühl, immer mehr leisten zu müssen und sich nicht auf dem Erreichten ausruhen zu können, versetze viele in Stress. Menz deutet auch auf eine wahrgenommene Gerechtigkeitslücke unserer Systeme. "Alle fühlen sich ungerecht behandelt – die einen glauben zu viel abgeben zu müssen, andere sind der Ansicht zu wenig zu haben. Die Gesellschaft setzt sich gar nicht mit den komplexen Strukturen dahinter auseinander. In welchem Verhältnis stehen zum Beispiel Leistung und Märkte? In der Gesamtheit betrachtet werden nicht diejenigen honoriert, die sich am meisten angestrengt haben. Trotzdem berufen wir uns weiter auf das Leistungsprinzip, weil Verteilung allein nach Bedürftigkeit oder Egalitätsprinzipien weder funktioniert, noch geteilter Wunsch ist. Wir machen beständig die Erfahrung von Ungerechtigkeit, halten aber am Prinzip der Leistungsgerechtigkeit fest", erklärt er. Wahrscheinlich sind es Feinheiten wie diese, denen wir viel mehr Augenmerk schenken sollten, denn die damit verbundenen Unzufriedenheiten graben sich tief ein in unser gesellschaftliches Verständnis und schaffen Spaltungen.
„Individueller Leistungsaufwand garantiert Erfolg immer weniger“, WiWo 17.10.19