Sich ergreifen lassen
Durch den Achtsamkeitstrend ist Spiritualität heute zu einer im Alltag stark präsenten Möglichkeit geworden. Uwe Habenicht, Mitbegründer der Waldkirche in St. Gallen, bringt zusätzlich zur Achtsamkeit die Natur ins Spiel und entdeckt in der Beziehung zu ihr eine befreiende Dynamik. "Zunächst einmal ist ja die Natur für uns ein Raum, den wir außerhalb unseres Alltags betreten. Das heißt, wir verlassen unsere gewohnten Räume und gehen hinaus ... Das heißt, wir betreten etwas Neues, weil wir etwas Altes hinter uns lassen. Ich glaube, dass wir, wenn wir genau hinschauen, ja sehen, wie viele Menschen sich danach sehnen, Alltagslogiken hinter sich zu lassen und Bereiche zu betreten, die noch mal anders funktionieren als das, was sonst unseren Alltag prägt", sagt er. Und gerade dieser Perspektivwechsel erlaube es, sich der Tiefendimension des Lebens, seiner spirituellen Gründung, anzunähern: "Das bedeutet, dass, sobald ich eben diesen alten Raum des Normalen verlasse, ich die Chance habe, Teil von etwas zu sein, was ich sonst eben nicht erlebe. Das ist für mich das Tor, das sich öffnet in Richtung Spiritualität." Mich spricht sehr an, wie Habenicht zwischen Achtsamkeit und Spiritualität unterscheidet und verdeutlicht, dass eine Vertiefung der Erfahrung möglich ist: "Die Achtsamkeit ist für mich eine Vorstufe des Spirituellen. Achtsamkeit heißt für mich zunächst erst einmal, dass ich wieder Teil werde von etwas, was über mich hinausgeht, dass ich etwas wahrnehme, dass ich mir Zeit nehme, mich entschleunige. Das Religiöse oder – streng genommen – das Religiöse-Spirituelle beginnt aber da, wo ich weiß, dass ich mich in einem Raum befinde, wo eine Gegenwart von etwas anderem mir noch einmal so nahekommt, dass es mich auch wirklich verändert und auch mich sozusagen ergreift." Vielleicht liegt genau hier der Punkt, warum viele Achtsamkeitsmethoden oft eher eine stark selbstbezogene, vor allem psychologisch motivierte Praxis anregen und das "Eigentliche" von Meditation verpassen. Denn dieses Sich-Ergreifen-Lassen, sich etwas anzuvertrauen, das sich der eigenen Kontrolle entzieht, ist eine besondere Öffnung. Sie führt in Neuland. Ein Abenteuer, mit offenem Ausgang ...
Meditation in alle Himmelsrichtungen, Deutschlandfunk Kultur 14.8.2022